Die Energie aus der Göschener Reuss

Ein geschichtlicher Rückblick von Georg Gamma


Im Jahre 1904 beschloss die Einwohnergemeinde Göschenen, Lichtstrom zu erzeugen. Bereits im Spätherbst 1905 unterhielt sie als erste Gemeinde des Kantons ein eigenes Elektrizitätswerk. Im Laufe der Zeit wurde das Werk immer wieder vergrössert und dem neuesten Stand angepasst. Im Jahr 2002/03 erfolgte der letzte wesentliche Umbau.

Der Mensch entdeckte schon sehr früh, wie das segenreiche, gelegentlich aber auch verheerende Folgen mitbringende Wasser als Antriebskraft eingespannt werden kann. Die erste gezielte Ausnutzung des Wassers kam mit der Erfindung des Schöpfrades zu Stande. Damit wurde die Kraft des fliessenden Elementes auf die Drehbewegung eines mit Schöpfkellen bestückten Rades übertragen. Später – genauer gesagt um 200 vor Christi Geburt – verstanden es die Griechen, mittels eines horizontalen laufenden Wasserrades, den durch den Wellbaum fest mit dem Rad verbundenen Mahlstein in kreisende Bewegung zu versetzen. Den Römern verdanken wir dann die ausgefeilte Technik des vertikalen Wasserrades und einer wirkungsvollen Übersetzung. Während Jahrhunderten wusste man die Wasserkraft lediglich zum Getreidemahlen auszunutzen. Erst im Hochmittelalter gingen verschiedene Tüftler daran, die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten des Wasserrades zur menschlichen Arbeitserleichterung heranzuziehen. Fortan übernahmen Sägewerke mit einem Einfachsägegatter, später auch mit mehreren nebeneinander angeordneten Sägeblättern die grobe Holzverarbeitung. Pochwerke zerkleinerten das Erz, Stoffwalken stampften die rauhen Hanftücher, und in Schmiedewerkstätten liessen die Wasserräder die schweren Eisenhämmer auf die Ambosse fallen, hielten die Blasebälge in Bewegung und gönnten den Schleifsteinen keine Ruhe.

Eine Getreidemühle und eine Sägerei im Göscheneralptal
Der Wasserreichtum des Kantons Uri ist sprichwörtlich. Wie fast alle anderen Gemeinden des Tellenkantons wird auch das Göschenertal beinahe verschwenderisch, gelegentlich sogar in verheerendem Ausmass mit dem kühlen Nass versorgt. Wenn man die Geschichte auch nur oberflächlich zurückverfolgt, ereigneten sich immer wieder Unwetter und Überschwemmungen, welche die Lebensgrundlagen der hiesigen Bevölkerung beschnitten oder gar zerstörten. Beinahe in regelmässigen Abständen von wenigen Jahren führten anhaltende Niederschläge dazu, dass die zahlreichen Bergbäche und insbesondere die Göschener Reuss in kurzer Zeit enorm anschwollen, über die Ufer traten und Gestein, Erdreich und Holz mit sich führend zu Tale fluteten. Daher war die Nutzung der Wasserkraft aus der Göschener Reuss lange Zeit kein Thema. Als einzige, zugleich aber weitaus sichere Lösung bot sich die Dienstbarmachung eines Quellbachs bei Abfrutt an. Der das ganze Jahr Wasser führende, auf einer Höhe von 1350 Meter über Meer aus dem Fels hervorsprudelnde Mühlebach diente schon sehr früh als Antriebskraft von Wasserrädern. Der erste schriftliche Hinweis einer Getreidemühle im Weiler Abfrutt taucht am 11. November 1625 im Urbarbuch des Klosters St. Lazerus in Seedorf auf. Bereits ein Vierteljahrhundert früher wird im Stiftbuch von Ursern zudem von einem in der Siedlung gelegenen Sägereibetrieb gesprochen.

Die Gotthardbahn – ein Zeitpionier
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Die Verwirklichung der Gotthardbahn stellte für den Kanton Uri eine massgebliche Weiche in Richtung verkehrspolitische Zukunft. Auch in Sachen moderner Wassernutzungsmöglichkeiten betrat das gewaltige Eisenbahnprojekt Neuland. Zwar steckte die Elektrizitätslehre noch in den Kinderschuhen und im Urnerland war der Lichtstrom noch gänzlich unbekannt, als 1873 eine Wasserfassung oberhalb der Häderlisbrücke erstellt wurde. Zwei mehrheitlich oberirdisch angelegte Röhren leiteten das Wasser zu den Kompressorengebäuden, die sich unmittelbar neben dem Nordportal des 1872 begonnenen Gotthardtunnels befanden. Die Wasserkraft diente zum Antrieb der Turbinen, die wiederum etliche Kompressoren in Bewegung setzten. Die dadurch gewonnene Druckluft wurde für die schweren pneumatischen Bohrmaschinen und die Ventilation im Stollen verwendet. Die komprimierte Luft war damals neben den einfachen mechanischen Hebevorrichtungen und Winden die einzige mechanische Kraft, die im Tunnelbau zum Einsatz kam.

Die Grundsteinlegung für das EWG
In der Nutzung der Wasserkraft zur Energieerzeugung hatte die erst 1875 politisch selbstständig gewordene Gemeinde Göschenen die Nase vorn. Nachdem 1895 das Elektrizitätswerk Altdorf (EWA) als Aktiengesellschaft gegründet wurde und die Wasser des Schächenbachs für seine Zwecke einspann sowie im Jahr 1902 das Elektrizitätswerk Ursern erstmals seinen Betrieb aufnahm, erzeugte im Spätherbst 1905 auch in Göschenen ein Kraftwerk eigenen Lichtstrom. Den ersten zukunftsweisenden Schritt verdanken wir fünf wohlhabenden Dorfbewohnern, nämlich dem Landrat und Buffetwirt Ernst Zahn, Hotelier Eugen Adam, Major Xaver Zgraggen, Gemeindeschreiber Franz Nell und dem Waisenvogt Emil Tresch. Sie erhielten das Recht zugesprochen, die Göschener Reuss von der Bitzi bis zur Zollbrücke zu nutzen. Das Wasser überwindet auf dieser kurzen Strecke rund 70 Höhenmeter. Das Projekt war noch nicht in die Tat umgesetzt, als das Bauvorhaben die Gemeinde auf den Plan rief. Noch im gleichen Jahr übernahm die Dorfschaft die Konzession.

Glühbirnen anstelle von Kerzenlicht und Talglampen
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An der Gemeindeversammlung vom 5. Juni 1904 verpflichtete sich die Gemeinde die bereits geleisteten Vorarbeiten beziehungsweise die Verhandlungen mit den Landinhabern und Lichtabnehmern unverzüglich fortzusetzen, und wenn sich die „Rentabilitäts-Aufstellung des Initiativkomitees für das Werk als richtig herausstellt, den Bau Anfang September 1905 zu Ende zu führen. Gegeneinflüsse höherer Gewalten selbstverständlich vorbehalten“, heisst es im Versammlungsprotokoll. Eine siebenköpfige Kommission wird mit der Ausführung des Projekts beauftragt. In der gleichen Versammlung einigt man sich darauf, dass nicht nur die Privathäuser und öffentlichen Bauten mit Lichtstrom versorgt, sondern auch eine Ortsstrassenbeleuchtung verwirklicht werden soll.
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Im Protokoll der Gemeindeversammlung vom 31. Dezember 1905 wird die offizielle Übergabe des Elektrizitätswerks an die Gemeinde gutgeheissen. Die Baukommission erfährt die Umwandlung in einen Verwaltungsrat. Als Vorsitzender wird der Mitbürger, Dichter und damals meistgelesene Schweizer Schriftsteller Ernst Zahn gewählt. Für ein Jahresgehalt von 200 Franken übernimmt Franz Nell die Aufgabe des Verwalters und Kassiers. Somit war Göschenen damals die erste Gemeinde des Kantons Uri mit einem eigenen Elektrizitätswerk. Am 14. April 1907 legte die Gemeinde dann die Endabrechnung vor. Die zwei Propellerturbinen erheischten mit dem nötigen Zubehör versehen den Betrag von 9547 Franken. Die Gleichstromdynamos mit einer Leistungskapazität von je 240 Volt und 50 Pferdestärken sowie sämtliche elektrischen Installationen beliefen sich auf 18750 Franken. Die Gesamtkosten des Werkes schlugen mit 97 534 Franken zu Buche. Wenige Jahre später wurde das Kleinkraftwerk durch eine dritte Dynamogruppe um weitere 75 PS verstärkt.

Elektrifizierung der Eisenbahn
Am 12. Dezember 1920 konnte die Gotthardbahn auf ihrem Streckennetz den elektrischen Betrieb aufnehmen. Auch im Dorf Göschenen erfuhr die weisse Kohle eine immer grössere Nachfrage. 1924 musste das Elektrizitätswerk erneut erweitert werden. Das Gleichstromkraftwerk wurde auf Wechselstrom 460/250 Volt umgebaut und die alten Propellerturbinen durch leistungsstärkere Francisturbinen mit je 600 PS ersetzt. Die bisherige Wasserfassung in der Altenge in Abfrutt erhielt ein Stau- und Ausgleichbecken. Das umfangreiche Mauerwerk wurde mit an Ort und Stelle gebrochenen und behauenen Granitsteinen erstellt. Zusätzlich zur bereits bestehenden Druckleitung wurde ein zweites Rohr mit eigener Trasseführung verlegt.

Das Gemeindewerk wird verpachtet
Im Jahr 1959 verpachtete die Gemeinde ihr eigenes Werk samt seinen Anlagen der Kraftwerk Göschenen AG. Der Pachtvertrag resultierte aus der Fertigstellung eines Staubeckens beim Bahnhof Göschenen, das zum Kraftwerk Wassen gehörte. Die KWG verpflichteten sich, das Elektrizitätswerk der Stauquote 1083,5 Meter des Ausgleichbeckens in der Göschener Reuss anzupassen. Weiter legte die Pachtvereinbarung fest, dass die Pächterin die Anlage auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko betreiben und dem EWG bis zum Jahr 2043 eine auf 365 Tage verteilte Jahresenergie von 4,8 Millionen Kilowattstunden liefern muss. 1967 verlängerte der Urner Landrat das Recht auf die Konzession der Gemeinde Göschenen zur Nutzung besagter Wasserkraft bis zum 31. Dezember 2043.
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Bau des Kleinwasserkraftwerk Sagibach
Bau des Kleinwasserkraftwerk Sagibach Am 28. September 2014 stimmten die Bürgerinnen und Bürger über ein Kreditbegehren des EWG-Verwaltungsrates im Betrage von 2.25 Mio. Franken für die Realisierung eines Kleinwasserkraftwerkes im «Sagibach» ab. Die Bürgerinnen und Bürger stimmten diesem Kreditbegehren mit 90.06% Ja-Stimmenanteil zu. Am 24. Juni 2015 erfolgte der Spatenstich und am 10. März 2016 konnte das Kraftwerk bereits ans Netz geschaltet werden. Die durchschnittliche Jahresproduktion beträgt ca. 1.4 Mio. kWh. Die produzierte Energie wird die nächsten 25 Jahre bis ins Jahr 2041 an die Bilanzgruppe für Erneuerbare Energie (BG-EE) verkauft. Es handelt sich somit um eine KEV-Anlage.
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EWG – eine finanzkräftige Stütze der Gemeinde
In den Jahren 1968 und 69 vergrösserte die KWG zusammen mit dem EWG das Gemeindewerk auf eine Jahresleistung von 5,77 Millionen Kilowattstunden. Der Kostenaufwand belief sich auf 3 Millionen Franken, die zu zwei Dritteln von der KWG und einem Drittel von der Gemeinde berappt wurden. Eigentümerin des Werkes blieb aber weiterhin die Gemeinde. Bewusst wurde auf die Auszahlung einer Abfindung verzichtet. Damit konnte eine zukunftsträchtige Produktionsstätte geschaffen werden, auf welche die Einwohnergemeinde Göschenen noch heute zu Recht stolz sein kann. Das Werk steht finanziell auf sehr gesunden Füssen, zudem nimmt es einen bedeutenden Stellenwert im Tal ein. Wichtige Aufgaben im Gemeindewesen obliegen dem EWG. So unterstehen ihm der Unterhalt der Strassenbeleuchtung und die Bewirtschaftung des rege benützten Gefrierhäuschens. Auch die Advents-Strassenbeleuchtung, der Dorfchristbaum sowie die Beleuchtung der alten Kirche fallen in den Tätigkeitsbereich des EWG.